Didaktik der Chemie / Universität Bayreuth

Stand: 27.06.16


Multimedia

1 Einführung


1.1 Der Computer in der Schule

Ab und zu, besonders im berühmten "Sommerloch", geistern folgende Vorstellungen durch die Presse bzw. Lehrerzimmer:

  1. Kinder (Schüler, Lernende) sitzen zu Hause allein und "die ganze Zeit" vor dem Computer. Dort spielen sie Gewaltspiele oder schauen im Internet Pornos an, machen keine Hausaufgaben und vereinsamen sozial.
  2. Lehrende ("Lehrer") brauchen keinen Computer, eine alte Schreibmaschine tut's auch. Bisher ging es ja auch so und nicht mal schlecht.
  3. Unterricht mit dem Computer ist langweilig und ineffektiv: er zwingt dem Lehrer die "Methode" auf, Inhalte werden als primitive Frage-Antwort-Spiele mehr schlecht als recht über primitive "Lernprogramme" vermittelt und der Zeitaufwand ist viel höher als für "normalen" (Frontal-)Unterricht.

Heute wissen wir, dass all diese Vorstellungen in dieser Reinform falsch sind. Untersuchungen haben Einzelbeobachtungen interessierter Lehrer bestätigt:

  1. Die meisten Lernenden nutzen den Computer sehr gezielt als Kommunikations- und Informationsmedium. Am häufigsten wird tatsächlich gespielt, aber wenn, dann eher selten allein. Einzelne Schüler verbringen sehr viel Zeit am Computer, wobei der "Computer-Experte" vom Süchtigen zu unterscheiden ist. Der Experte programmiert, erstellt Homepages oder nutzt gezielt und beherrschend soziale Netzwerke. Der Süchtige ist, unabhängig vom Computer, von vornherein kontaktgehemmt, chattet, spielt und vergisst die Zeit, kauft hemmungslos ein oder sammelt. Er könnte genauso gut spielautomatensüchtig, alkoholabhängig oder Raucher geworden sein.
  2. Bis zum Jahre 1450 funktionierte die Überlieferung von Information mündlich oder über Handschriften durchaus und sicherlich haben viele Leute damals angesichts der Preise für die ersten Druckerzeugnisse argumentiert, es wäre ja auch ohne Buch bisher sehr gut gegangen.
  3. Unterricht mit dem Computer kann genauso langweilig oder interessant sein, wie es der ohne Computer ist. Die Unterrichtsmethode wird allein vom Lehrenden gewählt und steht allein in seiner Verantwortung. Sehr wohl muss man für den Computer die RICHTIGE Methode wählen, damit Unterricht effektiv wird. Frühe Frage-Antwort-Programme stammen aus historischer Zeit (Programmierter Unterricht der 1970er Jahre [2]), sind in elektronischer Form u.U. genauso langweilig und/oder ineffektiv [3] wie in gedruckter und sind nichts mehr oder weniger als Medien, deren Einsatz geplant und fachgerecht durchgeführt werden muss.
    Richtig ist auch, dass man den Computer wie jedes andere Medium medial beherrschen muss. Die Begrenztheit der eigenen Computerkenntnisse und Fehlfunktionen muss man genauso einkalkulieren wie verschwundene Kreide bei der Tafel oder ein ausgebranntes Leuchtmittel beim OHP.

Letztendlich zeigt die rasante Entwicklung von Realitäten, dass es nicht unbedingt nötig ist, sich besondere Vorteile vom Computereinsatz in der Schule zu versprechen: das schnelle Eindringen dieser Maschine in alle Bereiche unseres Lebens macht eine Diskussion über das "Ob" überflüssig. Bevor noch die zweifel- und diskussionsfreudigen deutschen Pädagogen eine Liste von Vor- und Nachteilen ausdiskutiert haben, ist der Umgang mit dem Computer zu einer Kulturtechnik geworden, an deren Verbreitung die Leistungsfähigkeit einer Volkswirtschaft abgeschätzt wird. Zweifelsohne wird sie benötigt. Schule hat in allen Ländern die Aufgabe, Kulturtechniken zu lehren:

  • lesen,
  • schreiben mit der Hand und mit der Tastatur,
  • Umgang mit Büchern (Inhalts- und Stichwortverzeichnis, Gliederung in Kapitel),
  • Verfassen von verständlichen Berichten,
  • rechnen,
  • Fremdsprache(n),
  • naturwissenschaftliches Denken,
  • Unterscheidung von Werbung und Wahrheit...

Wir sind kurz davor, dass auch in der letzten Schule Computer so selbstverständlich sind wie ein OHP oder ein Heft. Schwedische staatliche Schulen gehen dazu über (2013), nicht nur Lehrenden, sondern auch Lernenden wahlweise Laptop oder Tablet kostenlos zur Verfügung zu stellen [4]. Lehrende haben die dienstliche Verpflichtung, sich (auch auf diesem Gebiet) fort zu bilden. Man tut sich selbst dabei etwas Gutes: je sanfter und freiwilliger man einsteigt, umso leichter fällt der Umgang. Wird man von Notwendigkeiten gezwungen, sich unter Termindruck einzuarbeiten, empfindet man den Druck als belastend.

Auch für den Biologie- und Chemieunterricht gilt, dass der Computer unverzichtbarer Bestandteil des Unterrichts wird, wie er es in beiden Wissenschaften schon ist. Das verdankt er nicht der Messwerterfassung, die im Prinzip schon fast 40 Jahre alt ist, sondern seinen Funktionen als Kommunikationsmedium. Neue Leistungen des Computers gegenüber herkömmlichen Medien  hat die Arbeitsgemeinschaft "Computer im Chemieunterricht" der GDCh in 2004 beschrieben [1]:

  1. Multimedialität, d.h. Einbezug verschiedener Medien (siehe Medien-Seminar: der Computer als Gerät zum Abspielen verschiedener Träger),
  2. Multicodalität, d.h. Einbezug verschiedener Darstellungsformen (der Computer als Gerät zum Abspielen verschiedener Darstellungsformen: Text, statische und bewegte Bilder...),
  3. Multimodalität, d.h. Ansprechen verschiedener Sinne (Text + Bild: Sehen, Ton: Hören), und
  4. Multilinearität, d.h. Bieten eines Informationsnetzes mit der technischen Möglichkeit, dass Lernende mehr oder weniger individuelle (lineare) Lernpfade beschreiten.

Allgemeiner formuliert der MNU-Verein 2002:

„Im Bereich der Naturwissenschaften hat der Computer gegenüber herkömmlichen Medien den Vorteil, dass komplexe dynamische Systeme und Modelle leichter und ansprechender visualisiert und nutzbar gemacht werden können. Nebenbei wird eine weitere Kulturtechnik erlernt. Die Dokumentation und Präsentation spielt hierbei eine herauszustellende Rolle. Die originale Begegnung und das Experiment sollen dabei nicht ersetzt, sondern sinnvoll an geeigneter Stelle ergänzt werden. Die Arbeit mit dem Computer soll die Schülerinnen und Schüler in altersgerechter Weise begleiten, und dabei immer selbstverständlicher werden. Der Computer gestattet die Einbeziehung weiterer »Erschließungsbereiche« (Kontexte), variabler Arbeitsformen und variantenreichen Übens.“ [5]

Aus den Lehrplänen für die Fächer Biologie und Chemie (Bayern) sowie der Praxis der Wissenschaften Biologie und Chemie lassen sich noch die folgenden fachspezifische Ziele ableiten:

  1. Fachwissenschaftler Biologie und Chemie setzen in Forschung wie Produktion und Analytik Computer ein:
  • Steuerung von Analyse-Geräten, einschließlich Auswertung
  • Recherche von Fachliteratur oder Messdaten
  • molecular modelling und molecular design
  • Steuerung von Produktionsverfahren.
  1. Neue Versuche oder kompliziertere Auswertungsverfahren werden für den Unterricht erschlossen.
  2. Daten können aus Sammlungen (aus eigenen oder fremden Datenbanken) abgerufen werden.
  3. Auf der didaktischen Ebene von Unterrichtsmethoden haben Arbeiten mit dem Computer (noch) eine hohe motivierende Wirkung auf Lernende (nicht jedoch stark veralterte Software). Auf Lehrendenseite können traditionelle Medien teilweise und gelegentlich ersetzt werden:
  • Filme und Modelle durch Computersimulation (mit Möglichkeiten zum Eingreifen, Stichwort "Interaktion")
  • zeitintensive oder gefährliche Experimente durch Simulationen oder Automation
  • schlecht abzulesende Messgeräte durch Großanzeigen auf Bildschirm oder Beamer-Projektion
  • Statische Bilder auf Farbfolien und/oder Dias sowie Ton-Dokumente durch Präsentationen von Datenträgern
  • Arbeitsblätter zur Bearbeitung am Bildschirm.

Beispiele aus dem aktuellen Lehrplan für die Gymnasien in Bayern (2013) [6]:

Chemie:

Jgst. 8 NTG: 8.4 Profilbereich. Themenvorschlag:
  • Molekülmodelle: Anfertigen von Molekülmodellen, Arbeiten mit Molekülbaukästen, Moleküldarstellung am Computer
Jgst. 9 NTG: 9.6 Profilbereich. Themenvorschlag:
  • Chemie und Computer: Messwerterfassung und Darstellung von Versuchsergebnissen; Visualisierungstechniken z. B. für Molekülmodelle
Jgst. 10 NTG: 10.3 Biomoleküle:
  • ...Zur Veranschaulichung der Molekülstrukturen nutzen sie moderne Visualisierungstechniken z. B. am Computer.

10.4 Profilbereich. Themenvorschlag:

  • Moleküldarstellung am Computer: Isomeriephänomene, Aussagekraft unterschiedlicher Modelle
Jgst. 11/12: 11.6 Aminosäuren und Proteine:
  • ...charakteristische Proteineigenschaften ... erklären und die fundamentale Bedeutung der Proteine für das Leben zu erfassen. Hierbei kommt der Verwendung von Molekülmodellen am Computer besondere Bedeutung zu.

12.1 Chemisches Gleichgewicht:

  • ...vielen chemischen Prozessen ein dynamisches Gleichgewicht zugrunde liegt. Computersimulationen oder Modellexperimente erleichtern den Lernenden dabei den für das Verständnis häufig erforderlichen Wechsel zwischen der Betrachtung der Vorgänge auf der Teilchen- und auf der Stoffebene.

12.2 Protolysegleichgewichte:

  • ...Hierbei bietet sich der Einsatz des Computers zur Messwerterfassung und Auswertung an.

Für die Realschule ist auf Grund des jüngeren Alters der Schüler eine Computeranwendung nicht explizit erwähnt, aber implizit gemeint:

Jgst. 8:
  • Teilchenmodell: Atome und Moleküle als kleinste Teilchen.

Natur&Technik:

Jgst. 5: 5.1.2 Themenbereiche: "Stoffe aus kleinsten Teilchen (...), welche mithilfe einfacher Modelle veranschaulicht (...) werden."

5.2.2: „einfache Modellvorstellungen“

Jgst. 6: 6.2.4: „gemeinsame[s] Projekt mit dem Schwerpunkt Biologie“

Biologie:

Jgst.   8:   8.3 Simulationen zur Evolutionstheorie
Jgst.   9:   9.4 Animationen zur Antigen-Antikörper-Reaktion
Jgst. 10: 10.1 Animationen zur Enzym-Katalyse
Jgst. 11: 11.2 RNA-Modell
Jgst. 12: 12.3 Optimalitätsmodell

In Lehrplänen werden Medien i.d.R. nicht verpflichtend erwähnt, sondern ihre Auswahl soll allein dem didaktischen Geschick und Verständnis des Lehrenden überlassen bleiben.

Computereinsatz in der Schule: Ergebnisse von Befragungen.




Folie: Umfrageergebnisse von DOMKE 1995 (N=445) haben auch nach fast 20 Jahren immer noch Gültigkeit.

Eine aktuellere Befragung liefert sehr ähnliche Ergebnisse. Details siehe PowerPoint-Präsentation unten. [7]


Zusammenfassung:

Die Frage "Können Sie mir Beispiele / Versuche schicken, wo (!) man den Computer braucht" ist genauso falsch gestellt wie "Können Sie mir Themen nennen, wo man einen Bleistift braucht".


Exkurs: Wie Begriffe entstehen

"First actual case of bug being found" schrieben Techniker am 9. September 1945 in ihren Testbericht zum Mark II Aiken Relay Calculator, der in jenen Tagen an der Harvard University getestet wurde. Ein Insekt hatte sich in einem Relais verfangen. Damit auch gar keine Zweifel aufkamen, wurde das Tierchen per Klebestreifen in den Bericht eingefügt. Jener "Bug" (Käfer) ist allerdings eine Motte gewesen. Man stelle sich vor, der Techniker hätte in der Schule in Biologie besser aufgepasst, dann würden wir unsere Software nicht Debugging-Prozeduren unterwerfen, sondern schlichtweg "entmotten".
Quelle: Newsflash 37/03 von Penton Media GmbH, Konrad-Celtis-Straße 77, 81369 München, 12.09.2003


Quellen:

[1] Eilks, I.; Krilla, B.; Flintjer, B.; Möllencamp, H.; Wagner, W.: Computer und Multimedia im Chemieunterricht heute. ChemKon, Heft 3, 2004, 121-124. Eine ausführliche Version der Empfehlungen ist vom Dozenten auf Anfrage zu beziehen.

[2] Gropengießer, H; Kattmann, U. (2008). Fachdidaktik Biologie. Köln: Aulis, 8. Aufl., S. 231.

[3] Keine einheitlichen Ergebnisse zur Wirksamkeit von Programmiertem Unterricht in der Biologiedidaktik, vgl. [2] S. 297.

[4] Wagner, W.: Erfahrungen gelegentlich der Fortbildung "Individualisierung an schwedischen Schulen", 02/2013.

[5] MNU (Hrsg.), 2002: Empfehlungen zum Computer-Einsatz im mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterricht an allgemein bildenden Schulen. http://www.mnu.de/images/Dokumente/rubberdoc/computereinsatz2002.pdf, S. VI (28.03.14)

[6] Vgl. Übersicht bei http://www.isb.bayern.de/gymnasium/lehrplan/gymnasium/ (28.03.14), in der Folge nicht einzeln zitiert.

[7] Bofinger, J. (2007): Digitale Medien im Fachunterricht: Schulische Medienarbeit auf dem Prüfstand – Arbeitsbericht. Auer: Donauwörth, S. 69.


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E-Mail: Walter.Wagner ät uni-bayreuth.de