Multimedia
1 Einführung
1.1 Der Computer in der Schule
Ab und zu, besonders im berühmten "Sommerloch", geistern folgende
Vorstellungen durch die Presse bzw. Lehrerzimmer:
- Kinder (Schüler, Lernende) sitzen zu Hause allein und
"die ganze Zeit" vor dem
Computer. Dort spielen sie Gewaltspiele oder schauen im Internet Pornos an,
machen keine Hausaufgaben und vereinsamen sozial.
- Lehrende ("Lehrer") brauchen keinen Computer, eine alte Schreibmaschine tut's
auch. Bisher ging es ja auch so und nicht mal schlecht.
- Unterricht mit dem Computer ist langweilig und ineffektiv: er
zwingt dem Lehrer die "Methode" auf, Inhalte werden als primitive
Frage-Antwort-Spiele mehr schlecht als recht über primitive
"Lernprogramme" vermittelt und der Zeitaufwand ist
viel höher als für "normalen" (Frontal-)Unterricht.
Heute wissen wir, dass all diese Vorstellungen in dieser Reinform falsch sind. Untersuchungen
haben Einzelbeobachtungen interessierter Lehrer bestätigt:
- Die meisten Lernenden nutzen den Computer sehr gezielt als Kommunikations-
und Informationsmedium. Am häufigsten wird tatsächlich gespielt, aber
wenn, dann eher selten allein. Einzelne Schüler verbringen sehr viel Zeit am
Computer, wobei der "Computer-Experte" vom Süchtigen zu unterscheiden ist.
Der Experte programmiert, erstellt Homepages oder nutzt gezielt und
beherrschend soziale Netzwerke.
Der Süchtige ist, unabhängig vom Computer, von vornherein kontaktgehemmt, chattet, spielt und vergisst die Zeit, kauft hemmungslos ein oder sammelt. Er könnte genauso gut
spielautomatensüchtig,
alkoholabhängig oder Raucher geworden sein.
- Bis zum Jahre 1450 funktionierte die Überlieferung von Information
mündlich oder über Handschriften durchaus und sicherlich haben viele Leute
damals angesichts der Preise für die ersten Druckerzeugnisse argumentiert, es
wäre ja auch ohne Buch bisher sehr gut gegangen.
- Unterricht mit dem Computer kann genauso langweilig
oder interessant sein, wie es der ohne
Computer ist. Die Unterrichtsmethode wird allein vom Lehrenden gewählt und steht allein
in seiner Verantwortung. Sehr wohl muss man für den Computer die RICHTIGE
Methode wählen, damit Unterricht effektiv wird. Frühe
Frage-Antwort-Programme stammen aus historischer Zeit (Programmierter
Unterricht der 1970er Jahre [2]),
sind in
elektronischer Form u.U. genauso langweilig und/oder ineffektiv [3] wie in gedruckter
und sind nichts mehr oder weniger als Medien, deren Einsatz geplant und
fachgerecht durchgeführt werden muss.
Richtig ist auch, dass man den Computer wie jedes andere Medium medial
beherrschen muss. Die Begrenztheit der eigenen Computerkenntnisse und
Fehlfunktionen muss man genauso einkalkulieren wie verschwundene Kreide bei
der Tafel oder ein ausgebranntes Leuchtmittel beim OHP.
Letztendlich zeigt die rasante Entwicklung von Realitäten, dass es nicht
unbedingt nötig ist, sich besondere Vorteile vom Computereinsatz in der Schule
zu versprechen: das schnelle Eindringen dieser Maschine in alle Bereiche unseres
Lebens macht eine Diskussion über das "Ob" überflüssig. Bevor noch die zweifel-
und diskussionsfreudigen deutschen Pädagogen eine Liste von Vor- und Nachteilen
ausdiskutiert haben, ist der Umgang mit dem Computer zu einer Kulturtechnik
geworden, an deren Verbreitung die Leistungsfähigkeit einer Volkswirtschaft
abgeschätzt wird. Zweifelsohne wird sie benötigt. Schule hat in allen Ländern
die Aufgabe, Kulturtechniken zu lehren:
- lesen,
- schreiben mit der Hand und mit
der Tastatur,
- Umgang mit Büchern (Inhalts- und Stichwortverzeichnis, Gliederung
in Kapitel),
- Verfassen von verständlichen Berichten,
- rechnen,
- Fremdsprache(n),
- naturwissenschaftliches Denken,
- Unterscheidung von Werbung und Wahrheit...
Wir sind kurz davor, dass auch in der letzten Schule Computer so selbstverständlich sind wie ein OHP
oder ein Heft. Schwedische staatliche Schulen gehen dazu über (2013), nicht nur
Lehrenden, sondern auch Lernenden wahlweise Laptop oder Tablet kostenlos zur
Verfügung zu stellen [4]. Lehrende haben die dienstliche Verpflichtung, sich (auch auf diesem Gebiet) fort zu
bilden. Man tut sich selbst dabei etwas Gutes: je sanfter und freiwilliger
man einsteigt, umso leichter fällt der Umgang. Wird man von Notwendigkeiten
gezwungen, sich unter Termindruck einzuarbeiten, empfindet man den Druck als
belastend.
Auch für den Biologie- und Chemieunterricht gilt, dass der Computer unverzichtbarer
Bestandteil des Unterrichts wird, wie er es in beiden Wissenschaften schon
ist. Das verdankt er nicht der Messwerterfassung, die im Prinzip schon
fast 40 Jahre
alt ist, sondern seinen Funktionen als Kommunikationsmedium. Neue Leistungen des Computers gegenüber herkömmlichen Medien hat die Arbeitsgemeinschaft "Computer im Chemieunterricht"
der GDCh in 2004 beschrieben [1]:
- Multimedialität, d.h. Einbezug
verschiedener Medien (siehe Medien-Seminar: der Computer als Gerät zum
Abspielen verschiedener Träger),
- Multicodalität, d.h. Einbezug
verschiedener Darstellungsformen (der Computer als Gerät zum Abspielen
verschiedener Darstellungsformen: Text, statische und bewegte Bilder...),
- Multimodalität, d.h. Ansprechen
verschiedener Sinne (Text + Bild: Sehen, Ton: Hören), und
- Multilinearität, d.h. Bieten eines
Informationsnetzes mit der technischen Möglichkeit, dass Lernende mehr
oder weniger individuelle (lineare) Lernpfade beschreiten.
Allgemeiner formuliert der MNU-Verein 2002:
„Im Bereich der
Naturwissenschaften hat der Computer gegenüber herkömmlichen Medien den Vorteil,
dass komplexe dynamische Systeme und Modelle leichter und ansprechender
visualisiert und nutzbar gemacht werden können. Nebenbei wird eine weitere
Kulturtechnik erlernt. Die Dokumentation und Präsentation spielt hierbei eine
herauszustellende Rolle. Die originale Begegnung und das Experiment sollen dabei
nicht ersetzt, sondern sinnvoll an geeigneter Stelle ergänzt werden. Die Arbeit
mit dem Computer soll die Schülerinnen und Schüler in altersgerechter Weise
begleiten, und dabei immer selbstverständlicher werden. Der Computer gestattet
die Einbeziehung weiterer »Erschließungsbereiche« (Kontexte), variabler
Arbeitsformen und variantenreichen Übens.“ [5]
Aus den Lehrplänen für die Fächer Biologie und Chemie (Bayern) sowie der Praxis der
Wissenschaften Biologie und Chemie lassen sich noch die folgenden fachspezifische Ziele
ableiten:
- Fachwissenschaftler
Biologie und Chemie setzen in Forschung wie Produktion und Analytik Computer ein:
- Steuerung von Analyse-Geräten, einschließlich Auswertung
- Recherche von Fachliteratur oder Messdaten
- molecular modelling und molecular design
- Steuerung von Produktionsverfahren.
- Neue Versuche oder kompliziertere Auswertungsverfahren werden für den
Unterricht erschlossen.
- Daten können aus Sammlungen (aus eigenen oder
fremden Datenbanken)
abgerufen werden.
- Auf der didaktischen Ebene von Unterrichtsmethoden haben Arbeiten mit dem
Computer (noch) eine hohe motivierende Wirkung auf Lernende (nicht jedoch
stark veralterte Software). Auf Lehrendenseite können traditionelle Medien
teilweise und gelegentlich ersetzt werden:
- Filme und Modelle durch Computersimulation (mit Möglichkeiten zum
Eingreifen, Stichwort "Interaktion")
- zeitintensive oder gefährliche Experimente durch Simulationen oder
Automation
- schlecht abzulesende Messgeräte durch Großanzeigen auf Bildschirm
oder Beamer-Projektion
- Statische Bilder auf Farbfolien und/oder Dias sowie
Ton-Dokumente durch Präsentationen von Datenträgern
- Arbeitsblätter zur Bearbeitung am Bildschirm.
Beispiele aus dem aktuellen Lehrplan für die Gymnasien in
Bayern (2013) [6]:
Chemie:
Jgst. 8 NTG: |
8.4 Profilbereich.
Themenvorschlag:
- Molekülmodelle: Anfertigen von Molekülmodellen, Arbeiten mit
Molekülbaukästen, Moleküldarstellung am Computer
|
Jgst. 9 NTG: |
9.6 Profilbereich.
Themenvorschlag:
- Chemie und Computer: Messwerterfassung und Darstellung von
Versuchsergebnissen; Visualisierungstechniken z. B. für Molekülmodelle
|
Jgst. 10 NTG: |
10.3 Biomoleküle:
- ...Zur Veranschaulichung
der Molekülstrukturen nutzen sie moderne Visualisierungstechniken z. B. am Computer.
10.4 Profilbereich. Themenvorschlag:
- Moleküldarstellung
am Computer: Isomeriephänomene, Aussagekraft unterschiedlicher
Modelle
|
Jgst. 11/12: |
11.6 Aminosäuren und Proteine:
- ...charakteristische Proteineigenschaften ... erklären und die fundamentale
Bedeutung der Proteine für das Leben zu erfassen. Hierbei kommt der
Verwendung von Molekülmodellen am Computer besondere Bedeutung
zu.
12.1 Chemisches Gleichgewicht:
- ...vielen chemischen Prozessen ein dynamisches Gleichgewicht
zugrunde liegt. Computersimulationen oder Modellexperimente
erleichtern den Lernenden dabei den für das Verständnis häufig
erforderlichen Wechsel zwischen der Betrachtung der Vorgänge auf der
Teilchen- und auf der Stoffebene.
12.2 Protolysegleichgewichte:
- ...Hierbei bietet sich der Einsatz des Computers zur Messwerterfassung und Auswertung an.
|
Für die Realschule ist auf Grund des jüngeren Alters der Schüler eine
Computeranwendung nicht explizit erwähnt, aber implizit gemeint:
Jgst. 8: |
- Teilchenmodell: Atome und Moleküle als
kleinste Teilchen.
|
Natur&Technik:
Jgst. 5: |
5.1.2 Themenbereiche: "Stoffe
aus kleinsten Teilchen (...), welche mithilfe einfacher Modelle
veranschaulicht (...) werden."
5.2.2:
„einfache
Modellvorstellungen“ |
Jgst. 6: |
6.2.4: „gemeinsame[s] Projekt mit dem
Schwerpunkt Biologie“ |
Biologie:
Jgst. 8: |
8.3 Simulationen zur Evolutionstheorie |
Jgst. 9: |
9.4 Animationen zur
Antigen-Antikörper-Reaktion |
Jgst. 10: |
10.1 Animationen zur Enzym-Katalyse |
Jgst. 11: |
11.2 RNA-Modell |
Jgst. 12: |
12.3 Optimalitätsmodell |
In Lehrplänen werden Medien i.d.R. nicht verpflichtend erwähnt, sondern
ihre Auswahl soll allein dem didaktischen Geschick und Verständnis des
Lehrenden überlassen bleiben.
Computereinsatz in der Schule: Ergebnisse von
Befragungen.
Folie: Umfrageergebnisse von DOMKE 1995
(N=445) haben auch nach fast 20 Jahren immer noch Gültigkeit.
Eine aktuellere Befragung liefert sehr ähnliche Ergebnisse.
Details siehe PowerPoint-Präsentation unten. [7]
Zusammenfassung:
Die Frage "Können Sie mir Beispiele /
Versuche schicken, wo (!) man den Computer braucht" ist genauso falsch gestellt wie
"Können Sie mir Themen nennen, wo man einen Bleistift braucht".
Exkurs: Wie Begriffe entstehen
"First actual case of bug being found"
schrieben Techniker am 9. September 1945 in ihren Testbericht zum Mark II Aiken
Relay Calculator, der in jenen Tagen an der Harvard University getestet wurde.
Ein Insekt hatte sich in einem Relais verfangen. Damit auch gar keine Zweifel
aufkamen, wurde das Tierchen per Klebestreifen in den Bericht eingefügt. Jener
"Bug" (Käfer) ist allerdings eine Motte gewesen. Man stelle sich vor, der
Techniker hätte in der Schule in Biologie besser aufgepasst, dann würden wir
unsere Software nicht Debugging-Prozeduren unterwerfen, sondern schlichtweg
"entmotten".
Quelle: Newsflash 37/03 von Penton Media GmbH,
Konrad-Celtis-Straße 77, 81369 München, 12.09.2003
Quellen:
[1] Eilks, I.; Krilla, B.; Flintjer, B.;
Möllencamp, H.; Wagner, W.: Computer und Multimedia im Chemieunterricht
heute. ChemKon, Heft 3, 2004, 121-124. Eine ausführliche Version der Empfehlungen
ist vom Dozenten auf Anfrage zu beziehen.
[2] Gropengießer, H;
Kattmann, U. (2008). Fachdidaktik Biologie. Köln: Aulis, 8. Aufl., S.
231.
[3] Keine einheitlichen
Ergebnisse zur Wirksamkeit von Programmiertem Unterricht in der
Biologiedidaktik, vgl. [2] S. 297.
[4] Wagner, W.: Erfahrungen
gelegentlich der Fortbildung "Individualisierung an schwedischen
Schulen", 02/2013.
[5] MNU (Hrsg.), 2002:
Empfehlungen zum Computer-Einsatz im mathematischen und
naturwissenschaftlichen Unterricht an allgemein bildenden Schulen.
http://www.mnu.de/images/Dokumente/rubberdoc/computereinsatz2002.pdf,
S. VI (28.03.14)
[6] Vgl. Übersicht bei
http://www.isb.bayern.de/gymnasium/lehrplan/gymnasium/ (28.03.14),
in der Folge nicht einzeln zitiert.
[7] Bofinger, J. (2007):
Digitale Medien im Fachunterricht: Schulische Medienarbeit auf dem
Prüfstand – Arbeitsbericht. Auer: Donauwörth, S. 69.
Download Folien
als PowerPoint-Datei
E-Mail:
Walter.Wagner ät uni-bayreuth.de
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