Didaktik der Chemie / Universität Bayreuth

Stand: 20.09.10

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Computereinsatz im Chemieunterricht

Mediale Funktionen von Lehr- und Lernprogrammen

Denken Sie hierbei nicht gleich an den (historischen) Programmierten Unterricht. Die Programme nach skinnerschem oder crowderschem Muster wirkten, ob auf Papier ob als Computerprogramm, so anregend wie ein Telefonbuch. Es war ein Experiment und es liegt in der Natur von Experimenten, dass nicht alle erfolgreich sind.

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1. Beschreibung

Lehr- und Lernprogramme sind als Programmgattung viel eher als eigenständige Medien zu behandeln als der Computer.

     
                                                               

Folien: Mögliche Typisierung von Anwenderprogrammen

Dabei nimmt die Komplexität von oben nach unten zu:

bulletElektronische Bücher sind nichts anderes als der Inhalt des herkömmlichen Buches auf einem anderen Informationsträger, wobei den hohen Gerätekosten und den Bedienproblemen der einsteigenden Schüler nur die Vorteile beim Blättern gegenüberstehen. Im Zusammenhang mit Lexika ist das durchaus ausreichend. Beispiele: CD-Römpp (Chemie-Lexikon), elektronische Varianten des PSE. In allen anderen Fällen sollte man sich stets vergegenwärtigen, dass über solch einfache elektronische Buchformen nur der Einstieg in das Computerzeitalter in Form des Programmierten Unterricht geschah. Der Begriff "Lernprogramm" stammt aus dieser Zeit und ist gelegentlich mit dem Negativimage des Programmierten Unterrichts behaftet. Letzterer war aber der lerntheoretische Stand der 40er Jahre und der technische Stand der 60er Jahre. Der englische Begriff "electronic book (e-book)" bedeutet heute allerdings etwas neues: einfache Lesegeräte mit grossformatigem Schirm und Speicherkapazität für ganze Bücher, wobei die Buchinhalte (auch an Schulbücher ist gedacht) aus dem Netz (natürlich nach Entrichtung der nötigen Gebühren)  hineingeladen werden.
bulletTools sind Programme, die dem Nutzer (komplizierte) Berechnungen abnehmen, dem Lernen aber nur indirekt dienen, indem allein Aufgaben mit verschiedenen Variablen berechnet werden. Bei der Frage, wie die Ausgangswerte das Ergebnis beeinflussen, wird der Nutzer nicht unterstützt. Beispiele: MolGen berechnet Strukturisomere zu einer gegebenen Summenformel, SPARTAN unterschiedliche Modellansichten zu Molekülen, WinOrbit Orbital-funktionen.
bulletÜbungsprogramme ("learnware", "drill-and-practice") geben bereits einfache Rückmeldungen der Art "falsch" und "richtig" und liefern eine Serie von Übungen. Die Inhalte beschränken sich für den Chemieunterricht auf mathematisch orientierte Inhalte. Einsatz finden sie im Anschluss an eine Lehreinheit in der Festigungsphase. Beispiele: FormelTutor (Aufbau von rationellen Formeln), ElektrochemischeZellen (Potentialberechnung von Galvanischen Elementen), GibbsEnergetik (Reaktionsenthalpie-Verlauf nach Gibbs-Helmholtz).
bulletErst die Lehrprogramme ("teachware") zeigen mehrere Elemente des Unterrichts (relativ klar definierte Zielgruppe, Verwendung spezifischer Methoden, Methodenwechsel, Lern- und Festigungsphasen, Lernzielkontrollen, Auslöschungsphasen, Übungsaufgaben...) so dass Lernende sich mit dieser Art von Software einen klar umrissenen, noch unbekannten Inhalt allein erarbeiten können.
bulletSimulationen, bei denen das Arbeiten mit dem Modellsystem im Computer Aussagen über das wahrscheinliche Verhalten des echten Systems zulassen, sind in der Chemie noch selten; Ansätze findet man bei den etwas älteren Programmen Abgaskatalysator, Blockcopolymerisation oder Ammoniaksynthese.
bulletIn Modellbildungssystemen werden die Regeln, die einem System oder einer Simulation zugrunde liegen, erst erarbeitet. Sie führen, wie der Name sagt, zu einer Modellvorstellung zur untersuchten Thematik.
bulletTutorien wiederum sind schulspezifischer: sie betreuen den Lernenden in umfangreicherer Weise.

Einfache Tutorien sind streng geführte Lehrgänge durch einen Inhalt (Biochemie aus der Reihe CyberMedia, MOLiS zum Thema Isomerie, Löslichkeitsprodukt), ergänzt durch Navigationshilfen, Hintergrundinformation und interaktive Elemente.

Adaptive Tutorien und Intelligente Tutorielle Systeme (ITS) erlauben dem Lernenden individuelle Lernwege und stellen sich auf Vorkenntnisse, benutzertypische Fehler und Lernfortschritt automatisch ein. Sie können im optimalen Fall den einfache Methoden benutzenden Lehrer bei begrenzten Inhaltsgebieten ersetzen. Die zugrundeliegenden, anspruchsvollen Techniken befinden sich aber noch im Entwicklungsstadium.

Ein gutes Lehrprogramm sollte den gleichen methodischen Grundsätzen folgen, die für lehrergeführten Unterricht gelten. Die Übergänge zwischen den Kategorien sind fließend, fortgeschrittenere Programmversionen können auf komplexere Stufen aufsteigen. Lehrprogramme sind in gewisser Weise durchaus mit dem Schulbuch zu vergleichen, obwohl der Informationsträger ein anderer (CD-ROM, eine Festplatte an einem Server irgendwo) ist. Die didaktische Intention ist aber die gleiche, nämlich zu einem (i.d.R. stärker begrenzten) Thema einen abgeschlossenen Lehrgang zu bieten. In diesem Sinn handelt es sich genauso um fremdgestaltete Medien.

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2. Einsatz

Für den Einsatz gelten zunächst die gleichen Grundsätze wie bei einem Schulbuch. Zusätzlich tun sich neue Möglichkeiten auf, die ihren didaktischen Preis haben:

bulletHypertext erleichtert das Blättern und das Zugreifen auf Hintergrundinformation, kann aber bei geringer Disziplin vom Lernweg ablenken.
bulletDas Navigieren ist zwar bequemer, erfordert aber ein Mindestmass an Fertigkeiten zur Bedienung eines Computers, seines Betriebssystems und gegebenenfalls der Lernumgebung (doppelter Mausklick, Verschieben von "scrollbars", Bedeutung von Symbolen).
bulletNeue, effektive Visualisierungshilfen (Animationen, 3D-Formeln, Video-Sequenzen) sind zugänglich, wollen aber fachgerecht bedient werden (rechte Maustaste, Optionen einstellen, Plugins installieren...).

Möglicherweise sind dies aber nur vorübergehende Schwierigkeiten, bis die heutige Grundschulgeneration die nötigen Fertigkeiten wie selbstverständlich aus dem privaten Bereich mitbringt. Gute Lehrprogramme ermöglichen schülerzentriertes Arbeiten mit allen Vorteilen des selbst bestimmten Lerntempos u.s.w. Anders als beim Schulbuch ist der Umfang kaum technisch beschränkt: schon eine CD-ROM fasst deutlich mehr Bilder und Text und dabei ändert sich ihre Masse nicht wesentlich. Mehr Übungen können integriert, Lösungswege beschrieben, Zusatzinformationen dazugepackt und Auswahlhilfen für alternative Inhalte realisiert werden.

Lehrprogramme unterstützen den schülerzentrierten Unterricht, ob im arbeitsgleichen Gruppenunterricht im Computerraum oder als eine Aufgabe im Rahmen des Stationenlernens eingesetzt. Die frühe Vermutung, Computer würden zu sozialer Isolation führen, hat sich in der Praxis eher ins Gegenteil verkehrt: fast jede Arbeit am Computer zeigt zwangsweise Elemente des sozialen Lernens. Sofern der Lehrer die Methode verstärkt, kann nach dem Prinzip "Lernen durch Lehren" ein erfahrener Nutzer ("Computerexperte") den anderen Gruppenmitgliedern bei der Bedienung oder unvorhersehbaren Problemen (Rechnerabsturz, wenig logische Bedienerführung, Handhabung interaktiver Sequenzen) helfen, während ein anderer ("Fachexperte") die zugrunde liegenden fachlichen Inhalte schon beherrscht.

Die unterschiedlichen Arbeitsweisen von Jungen und Mädchen sollten nur in Ausnahmefällen zur Aufhebung der Koedukation im Chemieunterricht führen. Eine geschickte Zusammenstellung der Gruppen, zum Beispiel mehrere unterschiedliche Experten in der Gruppe, oder ein Mädchenexperte und zwei Jungen, wird zum beidseitigen Nutzen sein, so dass sich die Mädchen nicht in der Anleitung verlieren oder die Jungen planlos herumprobieren.

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3. Beispiele

Auf dem Markt befinden sich vergleichsweise wenige Chemie-"Lernprogramme". Nur ein geringer Teil eignet sich für den Einsatz in der Schule. Zum Teil ist die technische Realisierung dürftig, sehr oft die didaktische Zielsetzung diffus und in vielen Fällen die englische Sprache limitierend.


Folie: Kleine Auswahl rezenter Chemie-"Lernprogramme"

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4. Ausblick

In dem Maß, in dem Lernprogramme zunehmend eingesetzt werden, wird sich der anspornende Charakter, der allein auf die seltene Benutzung des Gerätes Computer zurückzuführen ist, verlieren. Die Chance, die absolute Dominanz des Lehrers abzumildern, sollte ein Anreiz für die Didaktik sein, verstärkt gute Angebote für den Chemieunterricht zu machen.

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E-Mail: Walter.Wagner ät uni-bayreuth.de