Computereinsatz
im Chemieunterricht
1. Einführung
Folie: ZDF-MSNBC vom 4.2.2000
Ab und zu, besonders im berühmten "Sommerloch", geistern folgende
Vorstellungen durch die Presse bzw. Lehrerzimmer:
- Kinder (Schüler) sitzen zu Hause allein und
"die ganze Zeit" vor dem
Computer. Dort spielen sie Gewaltspiele oder schauen im Internet Pornos an,
machen keine Hausaufgaben und vereinsamen sozial.
- Lehrer brauchen keinen Computer, eine alte Schreibmaschine tut's
auch. Bisher ging es ja auch so und nicht mal schlecht.
- Unterricht mit dem Computer ist langweilig und ineffektiv: er
zwingt dem Lehrer die Methode auf, Inhalte werden als primitive
Frage-Antwort-Spiele mehr schlecht als recht über primitive
Lernprogramme vermittelt und der Zeitaufwand ist
viel höher als für "normalen" (Frontal-)Unterricht.
Heute wissen wir, dass all diese Vorstellungen in dieser Reinform falsch sind. Untersuchungen
haben Einzelbeobachtungen interessierter Lehrer bestätigt:
- Die meisten Schüler nutzen den Computer sehr gezielt als Kommunikations-
und Informationsmedium. Am häufigsten wird tatsächlich gespielt, aber wenn, dann
eher selten allein. Einzelne Schüler verbringen sehr viel Zeit am Computer,
wobei der "Computer-Experte" vom Süchtigen zu unterscheiden ist. Der Experte
programmiert, erstellt Homepages oder nutzt spezialisierte Informationen
von Homepages, aus Newsgroups und Blogs.
Der Süchtige ist, unabhängig vom Computer, von vornherein kontaktgehemmt,
chattet, spielt und vergißt die Zeit, kauft hemmungslos ein oder sammelt. Er könnte genauso gut
spielautomatensüchtig,
alkoholabhängig oder Raucher geworden sein.
- Bis zum Jahre 1450 funktionierte die Überlieferung von Information
mündlich oder über Handschriften durchaus und sicherlich haben viele Leute
damals angesichts der Preise für die ersten Druckerzeugnisse argumentiert, es
wäre ja auch ohne Buch bisher sehr gut gegangen.
- Unterricht mit dem Computer ist genauso langweilig, wie es der ohne
Computer ist. Die Methode wird allein vom Lehrer gewählt und steht allein
in seiner Verantwortung. Sehr wohl muss man für den Computer die RICHTIGE
Methode wählen, damit Unterricht effektiv wird. Langweilige
Frage-Antwort-Programme stammen aus historischer Zeit (1970),
sind in
elektronischer Form genauso langweilig und uneffektiv wie in gedruckter
und sind nichts mehr oder weniger als Medien, deren Einsatz geplant und
fachgerecht durchgeführt werden muss.
Richtig ist auch, dass man den Computer wie jedes andere Medium medial
beherrschen muß. Die Begrenztheit der eigenen Computerkenntnisse und
Fehlfunktionen muß man genauso einkalkulieren wie verschwundene Kreide bei
der Tafel oder ein ausgebranntes Leuchtmittel beim OHP.
Letztendlich zeigt die rasante Entwicklung von Realitäten, dass es nicht
unbedingt nötig ist, sich besondere Vorteile vom Computereinsatz in der Schule
zu versprechen: das schnelle Eindringen dieser Maschine in alle Bereiche unseres
Lebens macht eine Diskussion über das Ob überflüssig. Bevor noch die zweifel-
und diskussionsfreudigen deutschen Pädagogen eine Liste von Vor- und Nachteilen
ausdiskutiert haben, ist der Umgang mit dem Computer zu einer Kulturtechnik
geworden, an deren Verbreitung die Leistungsfähigkeit einer Volkswirtschaft
abgeschätzt wird. Zweifelsohne wird sie benötigt. Schule hat in allen Ländern
die Aufgabe, Kulturtechniken zu lehren:
| lesen, |
| schreiben mit der Hand und mit
der Tastatur, |
| Umgang mit Büchern (Inhalts- und Stichwortverzeichnis, Gliederung
in Kapitel), |
| Verfassen von verständlichen Berichten, |
| rechnen, |
| Fremdsprache(n),
|
| naturwissenschaftliches Denken, |
| Unterscheidung von Werbung und Wahrheit... |
Wir sind kurz davor, dass auch in der letzten Schule im Lehrerzimmer, den
Klassenzimmern oder dem Chemiesaal Computer so selbstverständlich sind wie ein
OHP. Ein
Lehrer die dienstliche Verpflichtung, sich (auch auf diesem Gebiet) fort zu
bilden. Und er tut sich selbst dabei etwas gutes: je sanfter und freiwilliger
man einsteigt, umso leichter fällt der Umgang. Wird man von Notwendigkeiten
gezwungen, sich unter Termindruck einzuarbeiten, empfindet man den Druck als
belastend.
Auch für den Chemieunterricht gilt, dass der Computer unverzichtbarer
Bestandteil des Unterrichts wird, wie er es in der Wissenschaft Chemie schon
ist. Das verdankt er nicht der Messwerterfassung, die im Prinzip schon
fast 40 Jahre
alt ist, sondern seinen Funktionen als Kommunikationsmedium (SPIEGEL 9/94:
Schöne neue Schule: Lernen mit dem Computer). Neue Leistungen des Computers gegenüber herkömmlichen Medien hat die Arbeitsgemeinschaft "Computer im Chemieunterricht"
der GDCh in 2004 beschrieben [1]:
- Multimedialität, d.h. Einbezug
verschiedener Medien (siehe Medien-Seminar: der Computer als Gerät zum
abspielen verschiedener Träger),
- Multicodalität, d.h. Einbezug
verschiedener Darstellungsformen (der Computer als Gerät zum abspielen
verschiedener Darstellungsformen: Text, statisches und bewegtes Bild...),
- Multimodalität, d.h. Ansprechen
verschiedener Sinne (Text + Bild: Sehen, Ton: Hören), und
- Multilinearität, d.h. Bieten eines
Informationsnetzes mit der technischen Möglichkeit, dass Lernende mehr
oder weniger individuelle (lineare) Lernpfade beschreiten.
Aus den Lehrplänen für das Fach Chemie (Bayern) sowie der Praxis der
Wissenschaft Chemie lassen sich noch die folgenden fachspezifische Ziele
ableiten:
- In der Praxis des Chemikers, Forschung so gut wie Produktion und Analytik,
ist der Computer nicht mehr wegzudenken:
| Computersteuerung von Analyse-Geräten |
| halb oder voll unterstützte Auswertung |
| Recherche von Fachliteratur oder Messdaten |
| molecular modelling und molecular design |
| automatisierte Produktionsverfahren. |
- Neue Versuche oder kompliziertere Auswertungsverfahren werden für den
Unterricht erschlossen.
- Daten können aus Sammlungen (aus eigenen Datenbanken oder aus Netzen)
abgerufen werden.
- Auf der didaktischen Ebene von Unterrichtsmethoden haben Arbeiten mit dem
Computer (noch) eine hohe motivierende Wirkung auf Schüler (nicht jedoch
stark veralterte Software). Auf Lehrerseite können traditionelle Medien
teilweise und gelegentlich ersetzt werden:
| Filme und Modelle durch Computersimulation (mit Möglichkeiten zum
Eingreifen, Stichwort "Interaktion") |
| zeitintensive oder gefährliche Experimente durch Simulationen oder
Automation |
| schlecht abzulesende Messgeräte durch Großanzeigen auf dem Bildschirm |
| teure Farbfolien durch Präsentationen von Datenträgern. |
Verpflichtende Inhalte, die mit Hilfe des Computers zu unterrichten sind,
sind gegenüber dem LP G9 durchaus ausgeweitet. Bsp.:
Jgst. 10 (G8): |
10.3 Biomoleküle: "...Zur Veranschaulichung
der Molekülstrukturen nutzen sie moderne Visualisierungstechniken
z. B. am Computer." 10.4 Profilbereich am NTG: "Moleküldarstellung
am Computer: Isomeriephänomene, Aussagekraft unterschiedlicher
Modelle"
|
Jgst. 11/12 (G8): |
11.6 Aminosäuren und Proteine: "Die
Auseinandersetzung mit höheren Strukturen ermöglicht es den Schülern,
charakteristische Proteineigenschaften zu erklären und die fundamentale
Bedeutung der Proteine für das Leben zu erfassen. Hierbei kommt der
Verwendung von Molekülmodellen am Computer besondere Bedeutung
zu." 12.1 Chemisches Gleichgewicht: "Aufbauend auf ihrem in
Jahrgangsstufe 10 erworbenen Wissen zu reversiblen Reaktionen erkennen
die Schüler, dass vielen chemischen Prozessen ein dynamisches
Gleichgewicht zugrunde liegt. Computersimulationen oder
Modellexperimente erleichtern den Lernenden dabei den für das
Verständnis häufig erforderlichen Wechsel zwischen der Betrachtung der
Vorgänge auf der Teilchen- und auf der Stoffebene."
12.2 Protolysegleichgewichte: "...Hierbei bietet sich der Einsatz des
Computers zur Messwerterfassung und Auswertung an." |
Für die Realschule ist auf Grund des jüngeren Alters der Schüler eine
Computeranwendung nicht explizit erwähnt, aber implizit gemeint:
Jgst. 8 (R6): |
"Teilchenmodell: Atome und Moleküle als
kleinste Teilchen" |
In Lehrplänen werden Medien grundsätzlich nicht verpflichtend erwähnt, sondern
ihre Auswahl soll allein dem didaktischen Geschick und Verständnis des
Lehrenden überlassen bleiben.
Folie: Umfrageergebnisse DOMKE 1995.
Diese Aussagen gelten heute, nach fast 15 Jahren, immer
noch uneingeschränkt.
Zusammenfassung:
Die Frage "Können Sie mir Beispiele /
Versuche schicken, wo (!) man den Computer braucht" ist genauso falsch gestellt wie
"Können Sie mir Themen nennen, wo man einen Bleistift braucht".
Exkurs: Wie Begriffe entstehen
"First actual case of bug being found"
schrieben Techniker am 9. September 1945 in ihren Testbericht zum Mark II Aiken
Relay Calculator, der in jenen Tagen an der Harvard University getestet wurde.
Ein Insekt hatte sich in einem Relais verfangen. Damit auch gar keine Zweifel
aufkamen, wurde das Tierchen per Klebestreifen in den Bericht eingefügt. Jener
"Bug" (Käfer) ist allerdings eine Motte gewesen. Man stelle sich vor, der
Techniker hätte in der Schule in Biologie besser aufgepasst, dann würden wir
unsere Software nicht Debugging-Prozeduren unterwerfen, sondern schlichtweg
"entmotten".
Quelle: Newsflash 37/03 von Penton Media GmbH,
Konrad-Celtis-Straße 77, 81369 München, 12.09.2003
Literatur:
[1] Eilks, I.; Krilla, B.; Flintjer, B.;
Möllencamp, H.; Wagner, W.: Computer und Multimedia im Chemieunterricht
heute. ChemKon, 2004, im Druck. Eine ausführliche Version der Empfehlungen
ist demnächst verfügbar unter
http://www.gdch.de/strukturen/fg/cu/ag/agcomp.htm
Download Folien
als PowerPoint-Datei, ppt 365k
E-Mail:
Walter.Wagner ät uni-bayreuth.de
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