Didaktik der Chemie / Universität Bayreuth

Stand: 20.09.10

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Computereinsatz im Chemieunterricht

1. Einführung

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Folie: ZDF-MSNBC vom 4.2.2000

Ab und zu, besonders im berühmten "Sommerloch", geistern folgende Vorstellungen durch die Presse bzw. Lehrerzimmer:

  1. Kinder (Schüler) sitzen zu Hause allein und "die ganze Zeit" vor dem Computer. Dort spielen sie Gewaltspiele oder schauen im Internet Pornos an, machen keine Hausaufgaben und vereinsamen sozial.
  2. Lehrer brauchen keinen Computer, eine alte Schreibmaschine tut's auch. Bisher ging es ja auch so und nicht mal schlecht.
  3. Unterricht mit dem Computer ist langweilig und ineffektiv: er zwingt dem Lehrer die Methode auf, Inhalte werden als primitive Frage-Antwort-Spiele mehr schlecht als recht über primitive Lernprogramme vermittelt und der Zeitaufwand ist viel höher als für "normalen" (Frontal-)Unterricht.

Heute wissen wir, dass all diese Vorstellungen in dieser Reinform falsch sind. Untersuchungen haben Einzelbeobachtungen interessierter Lehrer bestätigt:

  1. Die meisten Schüler nutzen den Computer sehr gezielt als Kommunikations- und Informationsmedium. Am häufigsten wird tatsächlich gespielt, aber wenn, dann eher selten allein. Einzelne Schüler verbringen sehr viel Zeit am Computer, wobei der "Computer-Experte" vom Süchtigen zu unterscheiden ist. Der Experte programmiert, erstellt Homepages oder nutzt spezialisierte Informationen von Homepages, aus Newsgroups und Blogs. Der Süchtige ist, unabhängig vom Computer, von vornherein kontaktgehemmt, chattet, spielt und vergißt die Zeit, kauft hemmungslos ein oder sammelt. Er könnte genauso gut spielautomatensüchtig, alkoholabhängig oder Raucher geworden sein.
  2. Bis zum Jahre 1450 funktionierte die Überlieferung von Information mündlich oder über Handschriften durchaus und sicherlich haben viele Leute damals angesichts der Preise für die ersten Druckerzeugnisse argumentiert, es wäre ja auch ohne Buch bisher sehr gut gegangen.
  3. Unterricht mit dem Computer ist genauso langweilig, wie es der ohne Computer ist. Die Methode wird allein vom Lehrer gewählt und steht allein in seiner Verantwortung. Sehr wohl muss man für den Computer die RICHTIGE Methode wählen, damit Unterricht effektiv wird. Langweilige Frage-Antwort-Programme stammen aus historischer Zeit (1970), sind in elektronischer Form genauso langweilig und uneffektiv wie in gedruckter und sind nichts mehr oder weniger als Medien, deren Einsatz geplant und fachgerecht durchgeführt werden muss.
    Richtig ist auch, dass man den Computer wie jedes andere Medium medial beherrschen muß. Die Begrenztheit der eigenen Computerkenntnisse und Fehlfunktionen muß man genauso einkalkulieren wie verschwundene Kreide bei der Tafel oder ein ausgebranntes Leuchtmittel beim OHP.

Letztendlich zeigt die rasante Entwicklung von Realitäten, dass es nicht unbedingt nötig ist, sich besondere Vorteile vom Computereinsatz in der Schule zu versprechen: das schnelle Eindringen dieser Maschine in alle Bereiche unseres Lebens macht eine Diskussion über das Ob überflüssig. Bevor noch die zweifel- und diskussionsfreudigen deutschen Pädagogen eine Liste von Vor- und Nachteilen ausdiskutiert haben, ist der Umgang mit dem Computer zu einer Kulturtechnik geworden, an deren Verbreitung die Leistungsfähigkeit einer Volkswirtschaft abgeschätzt wird. Zweifelsohne wird sie benötigt. Schule hat in allen Ländern die Aufgabe, Kulturtechniken zu lehren:

bulletlesen,
bulletschreiben mit der Hand und mit der Tastatur,
bulletUmgang mit Büchern (Inhalts- und Stichwortverzeichnis, Gliederung in Kapitel),
bulletVerfassen von verständlichen Berichten,
bulletrechnen,
bulletFremdsprache(n),
bulletnaturwissenschaftliches Denken,
bulletUnterscheidung von Werbung und Wahrheit...

Wir sind kurz davor, dass auch in der letzten Schule im Lehrerzimmer, den Klassenzimmern oder dem Chemiesaal Computer so selbstverständlich sind wie ein OHP. Ein Lehrer die dienstliche Verpflichtung, sich (auch auf diesem Gebiet) fort zu bilden. Und er tut sich selbst dabei etwas gutes: je sanfter und freiwilliger man einsteigt, umso leichter fällt der Umgang. Wird man von Notwendigkeiten gezwungen, sich unter Termindruck einzuarbeiten, empfindet man den Druck als belastend.

Auch für den Chemieunterricht gilt, dass der Computer unverzichtbarer Bestandteil des Unterrichts wird, wie er es in der Wissenschaft Chemie schon ist. Das verdankt er nicht der Messwerterfassung, die im Prinzip schon fast 40 Jahre alt ist, sondern seinen Funktionen als Kommunikationsmedium (SPIEGEL 9/94: Schöne neue Schule: Lernen mit dem Computer). Neue Leistungen des Computers gegenüber herkömmlichen Medien  hat die Arbeitsgemeinschaft "Computer im Chemieunterricht" der GDCh in 2004 beschrieben [1]:

  1. Multimedialität, d.h. Einbezug verschiedener Medien (siehe Medien-Seminar: der Computer als Gerät zum abspielen verschiedener Träger),
  2. Multicodalität, d.h. Einbezug verschiedener Darstellungsformen (der Computer als Gerät zum abspielen verschiedener Darstellungsformen: Text, statisches und bewegtes Bild...),
  3. Multimodalität, d.h. Ansprechen verschiedener Sinne (Text + Bild: Sehen, Ton: Hören), und
  4. Multilinearität, d.h. Bieten eines Informationsnetzes mit der technischen Möglichkeit, dass Lernende mehr oder weniger individuelle (lineare) Lernpfade beschreiten.

Aus den Lehrplänen für das Fach Chemie (Bayern) sowie der Praxis der Wissenschaft Chemie lassen sich noch die folgenden fachspezifische Ziele ableiten:

  1. In der Praxis des Chemikers, Forschung so gut wie Produktion und Analytik, ist der Computer nicht mehr wegzudenken:
bulletComputersteuerung von Analyse-Geräten
bullethalb oder voll unterstützte Auswertung
bulletRecherche von Fachliteratur oder Messdaten
bulletmolecular modelling und molecular design
bulletautomatisierte Produktionsverfahren.
  1. Neue Versuche oder kompliziertere Auswertungsverfahren werden für den Unterricht erschlossen.
  2. Daten können aus Sammlungen (aus eigenen Datenbanken oder aus Netzen) abgerufen werden.
  3. Auf der didaktischen Ebene von Unterrichtsmethoden haben Arbeiten mit dem Computer (noch) eine hohe motivierende Wirkung auf Schüler (nicht jedoch stark veralterte Software). Auf Lehrerseite können traditionelle Medien teilweise und gelegentlich ersetzt werden:
bulletFilme und Modelle durch Computersimulation (mit Möglichkeiten zum Eingreifen, Stichwort "Interaktion")
bulletzeitintensive oder gefährliche Experimente durch Simulationen oder Automation
bulletschlecht abzulesende Messgeräte durch Großanzeigen auf dem Bildschirm
bulletteure Farbfolien durch Präsentationen von Datenträgern.

Verpflichtende Inhalte, die mit Hilfe des Computers zu unterrichten sind, sind gegenüber dem LP G9 durchaus ausgeweitet. Bsp.:

Jgst. 10 (G8): 10.3 Biomoleküle: "...Zur Veranschaulichung der Molekülstrukturen nutzen sie moderne Visualisierungstechniken z. B. am Computer."

10.4 Profilbereich am NTG: "Moleküldarstellung am Computer: Isomeriephänomene, Aussagekraft unterschiedlicher Modelle"

 

Jgst. 11/12 (G8): 11.6 Aminosäuren und Proteine: "Die Auseinandersetzung mit höheren Strukturen ermöglicht es den Schülern, charakteristische Proteineigenschaften zu erklären und die fundamentale Bedeutung der Proteine für das Leben zu erfassen. Hierbei kommt der Verwendung von Molekülmodellen am Computer besondere Bedeutung zu."

12.1 Chemisches Gleichgewicht: "Aufbauend auf ihrem in Jahrgangsstufe 10 erworbenen Wissen zu reversiblen Reaktionen erkennen die Schüler, dass vielen chemischen Prozessen ein dynamisches Gleichgewicht zugrunde liegt. Computersimulationen oder Modellexperimente erleichtern den Lernenden dabei den für das Verständnis häufig erforderlichen Wechsel zwischen der Betrachtung der Vorgänge auf der Teilchen- und auf der Stoffebene."

12.2 Protolysegleichgewichte: "...Hierbei bietet sich der Einsatz des Computers zur Messwerterfassung und Auswertung an."

Für die Realschule ist auf Grund des jüngeren Alters der Schüler eine Computeranwendung nicht explizit erwähnt, aber implizit gemeint:

Jgst. 8 (R6): "Teilchenmodell: Atome und Moleküle als kleinste Teilchen"

In Lehrplänen werden Medien grundsätzlich nicht verpflichtend erwähnt, sondern ihre Auswahl soll allein dem didaktischen Geschick und Verständnis des Lehrenden überlassen bleiben.



Folie: Umfrageergebnisse DOMKE 1995.

Diese Aussagen gelten heute, nach fast 15 Jahren, immer noch uneingeschränkt.

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Zusammenfassung:

Die Frage "Können Sie mir Beispiele / Versuche schicken, wo (!) man den Computer braucht" ist genauso falsch gestellt wie "Können Sie mir Themen nennen, wo man einen Bleistift braucht".

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Exkurs: Wie Begriffe entstehen

"First actual case of bug being found" schrieben Techniker am 9. September 1945 in ihren Testbericht zum Mark II Aiken Relay Calculator, der in jenen Tagen an der Harvard University getestet wurde. Ein Insekt hatte sich in einem Relais verfangen. Damit auch gar keine Zweifel aufkamen, wurde das Tierchen per Klebestreifen in den Bericht eingefügt. Jener "Bug" (Käfer) ist allerdings eine Motte gewesen. Man stelle sich vor, der Techniker hätte in der Schule in Biologie besser aufgepasst, dann würden wir unsere Software nicht Debugging-Prozeduren unterwerfen, sondern schlichtweg "entmotten".
Quelle: Newsflash 37/03 von Penton Media GmbH, Konrad-Celtis-Straße 77, 81369 München, 12.09.2003

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Literatur:

[1] Eilks, I.; Krilla, B.; Flintjer, B.; Möllencamp, H.; Wagner, W.: Computer und Multimedia im Chemieunterricht heute. ChemKon, 2004, im Druck. Eine ausführliche Version der Empfehlungen ist demnächst verfügbar unter http://www.gdch.de/strukturen/fg/cu/ag/agcomp.htm

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E-Mail: Walter.Wagner ät uni-bayreuth.de